Die grundlegenden Handlungskreise des Alltag unterwegs lassen sich variieren, aber nicht abschalten, weil Kälte nach Kleidung, Erschöpfung nach Geborgenheit, Müdigkeit nach Schlaf, Hunger nach Essen, Gesundheit nach Hygiene, Gefahren nach Vorsorge verlangen. Diesen Alltag zu sichern erfordert Vorbereitung (προπέμπειν) und ein bestimmtes Verhalten unterwegs. Das ist dann zwar ein unterhaltsames Thema am Lagerfeuer, wird jedoch seltten niedergeschrieben. Eine wesentliche Quelle für den Reisealltag in historischen Zeiten bilden Reiserechnungen.
Verschiedene Konzepte des Unterwegs-Seins führen zu verschiedenen Alltäglichkeiten: »Auch fehlen Untersuchungen zum Alltag des Reisens von Wissenschaftlern und Gelehrten (in der Regel Mönchen) im 12. und 13. Jahrhundert, aber auch in der Renaissance«1)
Der Alltag der Geographen
Für Geographen ist das Unterwegs-Sein ein „natürlicher Sport“ meint Roger Brunetin „Les mots de la geography“ und umschreibt es als eine geografische Aktivität im geografischen Raum, zugespitzt als existentiellen Augenblick der Konfrontation mit dem Raum. Neutral bezeichnet er Reisen als einen Vektor der Mobilität und eine Modalität der Begegnung mit dem Anderssein. Im Spannungsfeld zwischen 'sich fortbewegen' und 'ankommen' entwickelt sich ein Gleichgewicht zwischen Akkomodation und Assimilation.
Dem entsprechend betrachtet Lecoquierre das Reisen als „interface de situation“ und betont dabei die Priorität von Differenzierung und Austausch bei drei Arten von Schnittstellen (Abs. 47-48), an denen sich ein Alltag entwickelt:
« interfaces qui ménagent l’altérité
« interfaces qui exploitent l’altérité »
« interfaces qui mettent en scène l’altérité »
Brunet, Roger Les mots de la géographie : Tourisme et loisirs.
L'Espace géographique, 26.3 (1997) 204. DOIOnline
Bailly, Antoine, Renato Scariati Voyage en géographie.
Bulletin de la Société géographique de Liège 46 (2005) 5-9.
Bruno Lecoquierre L’usage du voyage en géographie
Géographie et cultures 75 (2010) OnlineDOI
Alltag im Tourismus
Alltag (engl. everyday life, franz. vie quotidienne) umfasst eben Alltägliches, Wiederkehrendes und scheint daher auf den ersten Blick im Gegensatz zum Reisen zu stehen, so wie Arbeitsalltag und Urlaubsreise. Köstlin und Gyr haben jedoch gezeigt, dass im Urlaub ein anderer Alltag entsteht, der ritualisiert wird: spätes Aufstehen, ausgiebiges Frühstücken, Zeitung lesen, im Bademantel bleiben … Groth kategorisiert verschiedene Formen des Alltags als »Erwartbarkeit von Erfahrungen«. Tourismus verspricht ja genau das: die versprochenen Abenteuer finden in klaren Zeitfenstern zwischen Frühstück und Lunch statt und dürfen keinen unerwarteten Ausgang finden.
Literatur
Barbara Denicolò Von der „zerung“ und „notdurfft“ auf Reisen.
S. 52–63 in: Kassiankalender 2015, Brixen 2014.
Groth, Stefan Alltag als Konstante der Erfahrung?
S. 27–43 in: Barbara Sieferle, Martina Röthl (Hg.): Erfahrung – Kulturanalytische Relationierungen. Münster 2023: Waxmann.
Gyr, Ueli Touristenkultur und Reisealltag. Volkskundlicher Nachholbedarf in der Tourismusforschung.
Zeitschrift für Volkskunde 84.2 (1988) 224-239.
Julian Happes Stürme – Enge – Langeweile. Bemerkungen zum Alltag auf venezianischen Pilger-Galeeren im 15. Jahrhundert.
in: Unterwegs auf Pilgerstraßen. Pilger aus dem polnischen und deutschen Raum im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit.
Bulletin der Polnischen Historischen Mission. mit umfangreicher Bibliographie Biuletyn Polskiej Misji Historycznej, 10 (2015) DOI, Online.
Hagen, Christian Unser Reisender in Venedig: Reisevorbereitungen, Sehenswürdigkeiten und Merkwürdigkeiten
S. 57-70 in: Gerhard Fouquet (Hg.): Die Reise eines niederadeligen Anonymus ins Heilige Land im Jahre 1494. (=Kieler Werkstücke E, 5) 311 S. Ill. Karten, Bibliogr. S. 255−268 Frankfurt am Main 2007: Lang. Inhalt
Hlavacka, Milan Cestování v ére dostavníku. všední den na středoevropských cestách
48, VIII S., 49-137: Illustrationen, Karten. Praha 1996 : Argo.
Thema ist der Alltag auf der Straße im 17. bis 19. Jahrhundert, etwa die verschiedenen Fahrzeuge, die Unterbringung und Verpflegung in Gasthäusern, die Gefahren, Unannehmlichkeiten und Hygiene.
Helmut Hundsbichler Reise, Gastlichkeit und Nahrung im Spiegel der Reisetagebücher des Paolo Santonino (1485 – 1487)
Diss. Wien 1979
Jacoby, David, Juschka, Darlene M. Whose turn is it to cook? Communitas and pilgrimage questioned
Mosiac: A journal for the interdisciplinary study of literature, 36.4 (2003) 189-204
Kramer, Dieter (Hg.) Reisen und Alltag: Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung.
Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, 1992. Inhalt
Köstlin, Konrad Wir sind alle Touristen – Gegenwelten als Alltag.
S. 1-12 in: Christine Cantauw (Hg.): Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag (=Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 88). Münster 1995.
Klara Löffler Wie das Reisen im Alltag kultiviert wird.
Beobachtungen zu einer Form zeitgenössischer Schaulust.
In: Christoph Köck (Hg.): Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung aus volkskundlicher Sicht. München 2001 (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 29), S. 229-239.
Egli, Barbara Gepflegt unterwegs. Das Toilettenservice des Franz Ludwig von Erlach.
Fundstück S. 186–189 Online
Mączak, Antoni Eine Kutsche ist wie eine Straßendirne. Reisekultur im alten Europa.
Paderborn 2017 Ferdinand Schöningh.
Die Erfahrung des Unterwegsseinszwischen 1500 und 1700 auf knappen 180 Textseiten innerhalb Europas, erstmals erschienen 1978 [Zycie codzienne w podrozach w Europie x XVI i XVII wieku], deutsch 2017. Die gut gegliederte Thematik widmet sich besonders den Alltagssituationen, u.a. Wege und Verkehr / Herbergen und Bewirtung / Reisekosten / Hygiene / Grenzen / Reisegefährten / Instruktionen und gute Ratschläge / Gefahren / Reiselektüre / Die Grenzen des Schicklichen / Maße und Vergleiche / Hohe Erwartungen und alltägliche Eindrücke / Früchte der Reisen.
Klaus Militzer Stadtkölnische Reiserechnungen des Mittelalters
(=Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, 75) LIX, 639 S. Bibliogr. S. LII–LIX Düsseldorf 2007: Droste
[Reiserechnungen als wertvolle Quelle, den Alltag zu rekonstruieren]
Rowling, Marjorie Everyday Life of Medieval Travellers
Dorset Press, 1971
Schrutka-Rechtenstamm, Adelheid Tourismus und Volkskunde. Überblick und Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung.
Acta Ethnographica Hungarica 44.3-4 (1999): 303-322. Ausführlicher Review (Bibliogr. S. 317–322) der Beobachtungen zum Alltag im Tourismus. Online
Gerrit Verhoeven Feeling at home abroad: comfort, domesticity and social display on the Netherlandish Grand Tour, 1585-1815
S. 160-180 in: J. Stobart (Hg.): The Comforts of Home in Western Europe, 1700-1900, London 2020: Bloomsbury.
→ Kategorie: Technik: Ausrüstung, Transport & Verkehr in den Epochen/Jahrhunderten
Elisabeth Veyrat
Das Leben an Bord. Chronik einer vergessenen Lebensweise → Ausstellung 1997: San Diego
Patrick Wohlkönig Die feinen Unterschiede der Reise. Die Urlaubsreise als Spiegel sozialer Strukturen, Befindlichkeiten und kulturellem Abgrenzungsverhalten Diplomarbeit bei Adelheid Schrutka-Rechtenstamm Universität Graz 2010Online
Bergdolt, Klaus Medizin. S. 291-301 in: Handbuch der Mediterranistik. Brill Schöningh, 2015.
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