====== 1873 Theodor Fontane Modernes Reisen ====== //Quelle: Fontane, Theodor: Von vor und nach der Reise. 2. Aufl. Berlin, 1894, S. 24. In: Deutsches Textarchiv , abgerufen am 21.12.2025.// ===== 2 ===== Modernes Reisen. Eine Plauderei. (1873.) ===== 3 ===== Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massenreisen. Sonst reisten bevorzugte [[einzelne|Individuen]], jetzt reist jeder und jede. Kanzlistenfrauen besuchen einen klimatischen Kurort am Fuße des Kyffhäuser, behäbige Budiker werden in einem Lehnstuhl die Koppe hinaufgetragen, und Mitglieder einer kleinstädtischen Schützengilde lesen bewundernd im Schlosse zu Reinhardsbrunn, daß Herzog Ernst in fünfundzwanzig Jahren 50,157 Stück Wild getötet habe. Sie notieren sich die imposante Zahl ins Taschenbuch und freuen sich auf den Tag, wo sie in [[musse|Muße]] werden ausrechnen können, wie viel Stück auf den Tag kommen.\\ Alle [[welt|Welt]] reist. So gewiß in alten Tagen eine Wetter-Unterhaltung war, so gewiß ist jetzt eine Reise-Unterhaltung. „Wo waren Sie in diesem Sommer,“ heißt es von Oktober bis Weihnachten; „wohin werden Sie sich im nächsten Sommer ===== 4 ===== wenden?“ heißt es von Weihnachten bis Ostern; viele Menschen betrachten elf Monate des Jahres nur als eine Vorbereitung auf den zwölften, nur als die Leiter, die auf die Höhe des Daseins führt. Um dieses Zwölftels willen wird gelebt, für dieses Zwölftel wird gedacht und gedarbt; die Wohnung wird immer enger und die Herrschaft des Schlafsofas immer souverainer, aber „der Juli bringt es wieder ein“. Ein staubgrauer Reise-Anzug schwebt vor der angenehm erregten Phantasie der Tochter, während die Mutter dem verlegenen Oberhaupt der Familie zuflüstert: „Vergiß nicht, daß Du mir immer noch die Hochzeitsreise schuldest.“ So hofft es und heißt es in vielen tausend Familien. Wie sich die Kinder auf den Christbaum freuen, so freuen sich die Erwachsenen auf Mitsommerzeit; die Anzeigen der Saisonbillets werden begieriger gesucht als die Weihnachts-Annoncen; elf Monate muß man leben, den zwölften will man leben. Jede Prosa-Existenz sehnt sich danach, alljährlich einmal in poetischer Blüte zu stehen. Die Mode und die Eitelkeit haben ihren starken Anteil an dieser Erscheinung, aber in den weitaus meisten Fällen liegt ein Bedürfnis vor. Was der Schlaf im engen Kreise der 24 Stunden ist, das ist das Reisen in dem weiten Kreise der 365 Tage. ===== 5 ===== Der moderne Mensch, angestrengter wie er wird, bedarf auch größerer Erholung. Findet er sie? Findet er das erhoffte Glück?\\ Ja und nein, je nachdem wir das eine oder andere unter reisen verstehen. Heißt reisen „einen Sommeraufenthalt nehmen,“ so ist das Glück nicht nur möglich, sondern bei leidlich normaler Charakterbeschaffenheit sogar wahrscheinlich; heißt reisen aber „dauernde [[fortbewegung|Fortbewegung]]“, will sagen beständiger Wechsel von Eisenbahnen und Hotels, woran sich Bergerkletterungen und ähnliches blos anschließen, so muß man es gut treffen oder sehr bescheiden und sehr geduldig sein, um von seiner Reise das zu haben, was man wünscht: Freude, Glück.\\ In der That, es dreht sich alles um den Gegensatz von [[sommerfrische|Sommerfrischler]] und Sommerreisenden. \\ Betrachten wir zunächst den Sommerfrischler, den Repräsentanten der guten Reiseseite.\\ Der kleine Beamte, der Oberlehrer, der Stadtrichter, der Archidiakonus, die sich in ein eben entdecktes Dünendorf begeben, wo ihnen gelegentlich die Aufgabe zufällt, den allerursprünglichsten Strandhafer abzuwohnen, diese alle können, wenn sie mit [[sack_und_pack|Sack und Pack]] und ausgerüstet wie eine Auswandererfamilie in ihrer Fischerhütte einziehn, unter Segeltuch und ausgespannten Netzen ein höchst glückliches Dasein ===== 6 ===== führen. Sie werden, eh die Biederherzigkeit der alten Teerjacke, die erfahrungsmäßig höchstens drei Sommer aushält, in Gewinnsucht untergeht, für ein Billiges leben und die unvermeidlichen Ausgaben der eigentlichen Reise, der Locomotion als solcher, durch andauernden Blaubeeren- und Flundergenuß wieder balancieren können; die Kinder werden primitive Hafenanlagen im Sande machen, und die erwachsenen Töchter Muscheln und Bernstein suchen; unsagbar alte Garderobenstücke werden aufgetragen, Reminiscenzen an Cooper und Marryat neu belebt, vor allem auch Abmachungen auf Lieferung von Spickaal und Sprotten getroffen werden. Im ganzen wird man dankbar und wohlbefriedigt in die Heimat zurückkehren, gefestigt in allem Guten und gewachsen in der Kraft, die uns jede intimere Berührung mit der Natur zu geben pflegt. Nur vereinzelt unangenehme Eindrücke und [[erfahrung|Erfahrungen]] werden den Frieden einer solchen Sommerfrische gestört haben und der endliche Reiseüberschlag wird ergeben, daß man sich diese Erholung ohne nachträgliche Gewissensbisse wohl gönnen durfte. „Die Extrafahrt nach Putbus war zwar teuer, aber bedenken wir auch, es ist eine Erinnerung fürs Leben.“\\ So oder ähnlich wird es vieler Orten heißen und ===== 7 ===== wenn ich Umschau halte, will es mir erscheinen, daß sich solche, in der Bescheidenheit ihrer Ansprüche Befriedigten immer noch zu Tausenden finden müssen, nicht blos an der Ostseeküste hin, auch in Schlesien, am Oberharz, und in den Thälern und Bergkesseln des Thüringer Waldes. Aber alle freilich, wie ich wiederholen muß, werden dieses ungetrübten Glückes nur teilhaftig geworden sein, wenn sie während ihrer Reisezeit sich damit begnügten, in gewissem Sinne zu den Halb-[[nomaden|Nomaden]] zu zählen, mit anderen Worten, wenn sie vier Wochen lang auf ein und derselben Gebirgs- oder Strand-Oase aushielten.\\ So viel über den Sommer-Frischler, einen „Glücklichen.“\\ Aber sehr anders, wie schon angedeutet, liegt es bei dem Sommer-[[reisende|Reisenden]], der, wenn nicht beständig, so doch vielfach [[immer_unterwegs|unterwegs]], immer in der [[gefahr|Gefahr]] schwebt, seine Lagerstätte wechseln zu müssen. Es ist nicht zu leugnen, das Glück des mehr oder weniger seßhaften „Frischlers“ ist für den eigentlichen Reisenden, für den Tag um Tag seine Weideplätze wechselnden Voll-Nomaden nicht da. Keine wirkliche Wüsten[[fahrt|fahrt]], was sonst immer ihre Schrecken sein mögen, kann verdrießlicher und räuber-umschwärmter sein. Auch in Sachen der [[fata_morgana|Fata Morgana]] hat der eigentliche [[tourist|Tourist]] zu leiden, ===== 8 ===== wie nur je ein Wüstenfahrer. Immer neue Hotel-Schlösser tauchen verheißungsvoll am [[horizont|Horizonte]] vor ihm auf, aber der Moment der Erreichung ist auch jedesmal ein Moment der Enttäuschung für ihn. Er findet Kühle, nicht Kühlung.\\ Ist das alles ein Unvermeidliches?\\ Nein. Nichts davon, daß man es nicht anders gewollt, daß man ja das Recht gehabt habe ruhig zu Hause zu bleiben, und daß jeder, der sich leichtsinnig in Gefahr begäbe, nicht erstaunt sein dürfe, darin umzukommen. Dies alles ist nicht nur falsch, es ist auch hart und grausam, denn die Reise-Benötigung, die bestritten werden soll, ist wirklich da. So gewiß für den Durstverschmachteten ein Zwang da ist zu trinken, so gewiß ist auch für den staub- und arbeitsvertrockneten Residenzler ein Zwang da nach einem Trunke frischer Luft, und wer ihm diesen Trunk verbittert und verteuert, der thut viel Schlimmeres als die Brauwirte, die dem Volke das Bier verteuern. Und doch geschieht es. Ja die traurige Erscheinung tritt ein, daß mit dem Wachsen des Bedürfnisses auch die Unmöglichkeit wächst, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Der vorhandene Notstand, statt die Frage anzuregen: wie heben wir ihn? regt nur die Frage an: wie beuten wir ihn aus! Der Reisedrang, je allgemeiner er ===== 9 ===== geworden ist, hat nicht Willfährigkeit und Entgegenkommen, sondern das Gegenteil davon erzeugt. Vielfach reine Wegelagerei. Wirte, Mietskutscher und [[fuehrer|Führer]] überbieten sich in Gewinnsucht und Rücksichtslosigkeit, und wer – im Gegensatz zu den vorgeschilderten, relativ seßhaften Reisenden – sein Reiseglück auf diese drei Karten gestellt hat, der wird freilich wohl thun, mit niedrigsten Erwartungen in die Situation einzutreten.\\ War es immer so? Mit nichten. Wie ganz anders erwiesen sich die Wirte vergangener Tage! Nur noch Einzel-Exemplare kommen vor, an denen sich die Tugenden eines ausgestorbenen Geschlechts studieren lassen. Wer sie voll erkennen will, der lese die englischen Romane des vorigen Jahrhunderts. Auch noch in W. Scott finden sich solche Gestalten. Es gab nichts Liebenswürdigeres als solchen englischen Landlord, der in heiterer Würde seine [[gast|Gäste]] auf dem Vorflur begrüßte und mit der Miene eines fürstlichen Menschenfreundes seine Weisungen gab. Er vertrat jeden Augenblick die Ehre seines Standes. Er war nicht dazu da, um in den drei Reisemonaten reich zu werden, still und allmählich sah er sein Vermögen wachsen und gab dem Sohne ein Eigentum, das er selbst einst vom Vater empfangen hatte. Er waltete seines Amts aus gutem Herzen ===== 10 ===== und guter Gewohnheit. Er war wie ein Patriarch; sein [[herberge|Gasthaus]] eine Zufluchtsstätte, ein Hospiz.\\ Auch in Deutschland gab es solche Gestalten, wenn auch vereinzelter, und ich entsinne mich selbst noch, wenn ich Ende der zwanziger Jahre die damals viertägige Reise von der pommerschen Küste bis in meine Ruppinsche Heimat machte, an solchen Wirtstafeln, namentlich in den mecklenburgischen Städten, gesessen zu haben. Eine geräuschlose Feierlichkeit herrschte vor, der Wirt gab nur den Anstoß zur Unterhaltung, dann schwieg er und belauschte klugen Auges die Wünsche jedes Einzelnen. Kam dann die [[abfahren|Abreise]], so mußten seine verbindlichen Formen den [[glaube|Glauben]] erwecken, man habe seinem Hause eine besondere Ehre erwiesen. Damals war jede Mittags[[rast|rast]] ein Vergnügen, jedes Nachtlager ein wohlthuendes, von einer gewissen Poesie getragenes Ereignis. Ich denke noch mit Freuden an diese Ideal- und Idyllzeit des Reisens zurück.\\ Wie sind jetzt die Hotel-Erlebnisse des kleinen Reisenden! Ich antworte mit einer Schilderung, bei der ich (vielleicht leider) Persönliches in den Vordergrund treten lasse. Persönliches und mit ihm das bis hierher nach Möglichkeit zurückgehaltene Ich. Der Zug hält. Es ist sieben Uhr abends. Jenseits des Schienenstranges steht die übliche Wagen- ===== 11 ===== burg von Omnibussen, Kremsern und Fiakern; Hotelkommissionäre, Fremdenführer, Kutscher machen die bekannte Sturmattacke, allen vorauf ein zehnjähriger Junge, der sich mit unheimlicher Geschicklichkeit der kleinen Reisetasche zu bemächtigen trachtet. Alles wird siegreich von mir abgeschlagen, aber nicht zu meinem Heil. Es empfiehlt sich nicht, zu Fuß zu kommen und die bekannten Fragen zu stellen. Ein mitteleleganter Oberkellner ritt, als ich in das Hotel eintrat, bereits auf seinem Drehschemel. „Kann ich ein Zimmer haben?“ „Ich werde fragen.“ Er frug aber nicht, schritt vielmehr gleich danach mit dem bekannten Silberblechleuchter die Treppe hinauf, mich der Mitteilung würdigend, „daß No. 7 soeben frei geworden sei.“ Diese Mitteilung schien sich bestätigen zu sollen, denn beim Eintritt in die besagte Nummer fanden wir eine Magd bei dem herkömmlichen, in drei Akten: ausgießen, eingießen und überziehen sich vollziehenden Zimmer-Reinigungsprozeß vor. Ich war nicht begierig, Zeuge dieser Einzelheiten zu sein und zog mich deshalb lieber in den parterregelegenen Speisesaal zurück, um hier bei Beefsteak, Kulmbacher und den „Fliegenden Blättern“, nicht gerade Mitternacht, aber doch die zehnte Stunde heranzuwachen. Endlich war sie da; noch ein Sodawasser mit Cognac, ===== 12 ===== und ich stieg wieder in meine nach dem Hof zu gelegene Stube hinauf, an deren niedriger Decke sich ein überklebter Balken hinzog. Oben angekommen, war mein Erstes eins der beiden Fenster zu öffnen, da mich die eigentümliche Stubenatmosphäre mehr und mehr zu bedrücken begann. Es schien auch zu helfen. Und nun schob ich mich, müde wie ich war, unter das Betttuch.\\ Ich mochte eine Viertelstunde geschlafen haben, als das Hinausfliegen mehrerer Stiefelpaare auf den Corridor und das Angespanntwerden eines Hotel-Omnibus (gleich nach 1 Uhr kam ein neuer Zug) mich aus tiefem Schlafe weckte. Zugleich empfand ich einen dumpfen Kopfschmerz, über dessen Ursache ich nicht lange in Zweifel bleiben sollte. Die „frische Nachtluft“, die ich, um der stickigen Stubenatmosphäre willen, einzulassen bemüht gewesen war, stieg leider nicht aus Himmelshöhen zu mir nieder, sondern aus Hofestiefen zu mir herauf und war ein Brodem, wie ihn jeder aus Erfahrung kennt, der, um etliche Jahrzehnte zurück, noch im alten Münchener Hofbräu seinen Krug getrunken hat. Nur hatt’ ich hier die höhere Potenz. ...